„Der Klimawandel ist die atemberaubende Chance, die sich als unlösbares Problem maskiert“

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20. April 2009
Von Christopher Flavin und Robert Engelman
Von Christopher Flavin & Robert Engelman
Worldwatch Institute Washington DC*

(Dieser Artikel erschien in Böll.Thema Ausgabe 1/2009 - Green New Deal)

Welch schöner Satz von John Gardner, dem Gründer der amerikanischen Bürgerorganisation «Common Cause»! Doch die Erde heizt sich unschön auf, die Gletscher schmelzen, das ewige Eis taut, die Ozeane werden sauer. Die Warnungen der Wissenschaftler werden hartnäckiger: Die Welt muss ihren Kurs schneller ändern. Und das mitten in der größten Wirtschaftskrise seit 1929. Christopher Flavin und Robert Engelman vom renommierten Washingtoner Worldwatch Institute haben in ihrem Bericht «Zur Lage der Welt 2009» die zehn wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen zusammengestellt, denen wir uns stellen müssen, um Klimastabilität dennoch zu erreichen. Schauen wir sie uns an.

1. Langfristiges Denken

Durch die Evolution hat sich der Mensch so entwickelt, dass er mit unmittelbaren Bedrohungen gut umgehen kann – seien es die wilden Tiere, denen die ersten Menschen in den Ebenen Afrikas begegneten, sei es die Finanzpanik, die die Welt Ende 2008 in den Griff nahm. Der Klimawandel hingegen ist ein besonders tückisches Problem: Nach menschlichem Zeitmaßstab treten seine Auswirkungen erst ganz allmählich auf, und mit den schlimmsten Folgen werden sich vermutlich Menschen auseinandersetzen müssen, die noch gar nicht geboren sind. Um dieses Problem zu lösen, müssen wir auch die Zukunft als unsere Verantwortung begreifen und die Folgen unserer heutigen Entscheidungen für künftige Generationen bedenken. Wie die Ägypter Pyramiden und die Europäer Kathedralen bauten, die Jahrtausende überdauerten, müssen wir anfangen, so zu handeln, als ob die Verantwortung für die Zukunft des Planeten noch über unsere begrenzte Lebensspanne hinaus unsere Sache ist.

2. Innovationen

Die Welt muss Technologien entwickeln und verbreiten, die die Produktion und die Nutzung kohlenstofffreier Energie maximieren, während zugleich die Kosten minimiert und die Verbraucherfreundlichkeit optimiert werden. (Verbraucherfreundlichkeit ist wichtig, denn die Leichtigkeit, fossile Brennstoffe zu transportieren, zu lagern und zu nutzen, gehört zu ihren großen Vorzügen, nicht allein ihr Preis.) Ein wirksamer Klimapakt wird Anreize bieten, die die technologische Entwicklung beschleunigen und die sicherstellen, dass erneuerbare Energien und andere emissionsarme Technologien in allen Ländern der Erde eingesetzt werden, unabhängig davon, ob diese die Kosten bezahlen können oder nicht. Beim Einsatz fossiler Energien müssen wir die Energieeffizienz entscheidend steigern und den Ausstoß von CO2, Methan, Stickstoffoxiden und Treibhausgasen, die aus der Kühlung

und den verschiedensten industriellen Prozessen herrühren, senken. Die Möglichkeiten, schnelle und kostenarme Emissionssenkungen vorzunehmen, sind zahlreich und meistens noch unerschlossen.

3. Demographie

Es ist unumgänglich, den weltweiten Dialog über das Bevölkerungswachstum neu zu eröffnen und eine Politik sowie Programme zu unterstützen, die zur Verlangsamung und schließlich zur Umkehr des Wachstums beitragen. Dabei muss sichergestellt sein, dass Frauen selbst entscheiden, ob und wann sie Kinder bekommen. Ein wirklich umfassendes Klimaabkommen würde sowohl die Folgen des Klimawandels für gefährdete Völker anerkennen wie auch den langfristigen Beitrag, den langsameres Wachstum und eine kleinere Weltbevölkerung bei der Reduzierung zukünftiger Emissionen innerhalb eines gerechten klimapolitischen Rahmens spielen. Und es sollte die Verpflichtung erneuern, die die Staaten der Welt 1994 eingegangen sind: nämlich das Bevölkerungsproblem nicht durch Druck auf die Eltern anzugehen, weniger (oder mehr) Kinder zu zeugen, als sie wünschen, sondern indem auf die Bedürfnisse der Frauen in Bezug auf Familienplanung, Gesundheit und Erziehung gehört wird.

4. Veränderung des Lebensstils

Das Erdklima kann nicht allein durch Technologie gerettet werden. Auch die Art, wie wir leben, muss sich ändern – und je länger wir damit warten, desto größere Opfer werden nötig sein. Dass in den USA Wohnhäuser und Autos in den vergangenen Jahrzehnten immer größer wurden, ist ein wesentlicher Faktor für die Steigerung der Treibhausgasemissionen und der Hauptgrund dafür, dass die US-Emissionen doppelt so hoch sind wie die anderer Industrieländer. Änderungen des Lebensstils sind nötig, einige davon mögen heute extrem unattraktiv erscheinen. Aber im Endeffekt sind die Dinge, ohne die zu leben wir wohl lernen müssen – übergroße Autos und Häuser, statusorientierter Konsum, billige Weltreisen, Fleisch zu jeder Mahlzeit und das alles jederzeit verfügbar –, keine unabdingbaren Güter oder gar in der Mehrzahl der Fälle das, was Menschen glücklich macht. Die Älteren unter uns und viele unserer Vorfahren haben in Kriegszeiten freiwillig größere Opfer akzeptiert. Dies ist zwar kein Krieg, aber es könnte mal einer werden.

5. Erhalt natürlicher Landschaft

Wir müssen den Ausstoß von Kohlendioxid oder anderen Treibhausgasen durch die Beschädigung oder Vernichtung von Wäldern und Böden reduzieren. Boden und Vegetation können sehr wirkungsvoll Kohlenstoffe und Treibhausgase aus der Atmosphäre absorbieren. Bei richtiger Behandlung kann der Boden allein jährlich etwa 13 Prozent aller von Menschen verursachten Kohlendioxidemissionen aufnehmen. In dem Ausmaß, in dem wir das Land zu einer effektiveren Senke für diese Gase machen, können wir Emissionen auf dem Niveau halten, wie es für unser Wohlergehen notwendig ist. Möglicherweise wirft eine aktive Senke jedoch geringere Erträge ab. Und jede Senke muss mit «Abflussstopfen» gesichert werden, um bei veränderten Bedingungen den Wiedereintritt der Treibhausgase in die Atmosphäre zu verhindern.

6. Starke Institutionen

Die letzten Monate des Jahres 2008 haben schmerzlich das gefährliche Ungleichgewicht zwischen einer frei treibenden Weltwirtschaft und einem regulativen System bloßgelegt, das nur ein Flickenteppich unterschiedlicher nationaler Systeme ist. Und wenn es je ein globales Phänomen gegeben hat, dann ist es das Klima. Die Vorstellung fällt in der Tat nicht schwer, dass das Klimaproblem langfristig eine politische Entwicklung hin zu einer Weltregierung vorantreiben könnte. Bei der momentan starken öffentlichen Abneigung gegen eine solche Idee bleibt uns vorerst nur die Regulierung durch die Vereinten Nationen, die multilateralen Banken und die wichtigen nationalen Regierungen. Neue Institutionen und Finanzmittel werden nötig sein, aber wahrscheinlich braucht es erst ein wachsendes öffentliches Bewusstsein oder eine dramatische Verschlechterung des Klimas, um die Widerstände für ihre Installierung und Durchsetzung zu überwinden.

7. Das Gebot der Gerechtigkeit

Ein dauerhaftes und erfolgreiches Klimaabkommen wird Mechanismen finden müssen, die finanziellen Lasten und potenziellen Unannehmlichkeiten gerecht zu verteilen. Die CO2-Emissionen pro Kopf sind in den Vereinigten Staaten beinahe fünfmal so hoch wie in Mexiko und mehr als zwanzigmal so hoch wie in den meisten Ländern südlich der Sahara. In der Vergangenheit haben hauptsächlich die wohlhabendsten und am stärksten industrialisierten Länder die Fähigkeit der Erde, Treibhausgase aufzunehmen, in Anspruch genommen. Entsprechend sollten die geringen verbliebenen Kapazitäten den sich entwickelnden Ländern vorbehalten sein. In diesen Ländern leben die meisten Menschen und sie tragen für die Verursachung des Problems nur wenig Verantwortung – das muss ein gerechtes Klimaabkommen berücksichtigen, obwohl es richtig ist, daran zu erinnern, dass ein kleiner, aber wachsender Teil ihrer Bevölkerungen inzwischen schon große Kohlenstofffußabdrücke hinterlässt.

8. Wirtschaftliche Stabilität

Im Herbst 2008 begann die Weltwirtschaft zu straucheln und damit stellt sich die Frage: Sollte eine Welt, die wirtschaftlich harten Zeiten entgegengeht, ihre Belastung noch durch die Kosten erhöhen, die der Paradigmenwechsel von den fossilen zu den erneuerbaren Energien mit sich bringt? Sollte wertvolles Land als bloßer Kohlenstoffspeicher genutzt werden? Doch wir müssen anerkennen: Jedes Klimaabkommen, das weltweite Prosperität voraussetzt, ist zum Scheitern verurteilt. Und da der Wunsch immer größerer Teile der Weltbevölkerung nach Wohlstand immer mehr der begrenzten Ressourcen beansprucht, müssen wir das Klima der Zukunft abwägen gegen eine Gegenwart mit Hunger und Armut. Ein tragfähiges internationales Klimaregime muss Mechanismen schaffen, die in wirtschaftlich schwachen wie blühenden Zeiten gleichermaßen funktionieren. Und ein starker Pakt kann nur auf der Grundlage von Prinzipien und Innovationen aufgebaut werden, die die langfristigen Kosten anerkennen und ihnen Rechnung tragen.

9. Politische Stabilität

Eine Welt, die mit Krieg und Terror beschäftigt ist, ist nicht in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf eine ferne Zukunft zu richten. Aber genau diese Einstellung ist nötig, um weitere Klimaveränderungen zu verhindern und mit den schon erfolgten fertig zu werden. Ein Klimapakt soll zu präventivem Handeln ermutigen, um die Unsicherheiten zu mindern, die durch den Klimawandel hervorgerufen oder verschärft werden. Aber bevor die Nationen nicht Wege finden, gewaltsame Konflikte zu entschärfen und die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, dass der Terrorismus ganze Gesellschaften aus dem Konzept bringt, werden Prävention und Anpassung an den Klimawandel nur eine untergeordnete Rolle spielen. Positiv gesehen, bietet die Aushandlung eines effektiven Klimaabkommens den Ländern, die sie nutzen, die Gelegenheit, in Frieden zu leben und über die engen Grenzen ihrer Interessen hinauszublicken auf ihre Abhängigkeit vom Rest der Welt. Und die Menschheit als eine einzige verletzliche Gattung zu erkennen – und nicht als eine Ansammlung von Nationen, die in einem ebenso nutzlosen wie endlosen Wettbewerb gefangen sind.

10. Mobilisierung für den Wandel

Die wachsende Angst vor dem Klimawandel mobilisierte die Politik. Die Gegner umweltpolitischer Maßnahmen weisen gern auf die immensen Kosten der Emissionsreduzierungen hin. In einer Zeit ernsthafter Wirtschaftsprobleme nimmt die Kraft eines solchen Arguments zu. Einige, die sich erst spät von der Realität des Klimawandels überzeugen ließen, sind vom Leugnen des Problems direkt zur Verzweiflung übergegangen. Die wirksamste Antwort auf beide Reaktionen besteht nach den Worten von John Gardner, dem Gründer von «Common Cause» (eine Bürgerorganisation, welche die Partizipation der Bürger stärken und die Politiker an ihren Versprechen messen will), darin, die globale Erwärmung als «atemberaubende Chance, die sich als unlösbares Problem maskiert hat», zu sehen. Die Lösung des Klimaproblems wird die größte Gründungswelle neuer Industrien und Jobs auslösen, die die Welt seit Jahrzehnten gesehen hat.

Ende November 2009 wird die Welt vor dem Probelauf stehen: Werden die rund 200 Einzelstaaten, die sich in Kopenhagen treffen, um ein neues Klimaabkommen zu vereinbaren, sich auf ein neues Protokoll einigen, das eine Vision und einen Fahrplan enthält? Globale Herausforderungen gibt es ja schon genug: Werden die weltweite Finanzkrise und der Konflikt im Nahen Osten die Führer der Welt in Beschlag legen? Wird der neue amerikanische Präsident Zeit genug haben, die USA wieder in eine Führungsposition zu bringen? Wird die weltweite Nord-Süd-Spaltung, die die Klimagespräche der vergangenen Jahre behindert hat, überwunden werden?

Viele Probleme, aber eines ragt über alle anderen heraus: Der Klimawandel ist keine gesonderte Angelegenheit, die man unabhängig von allen anderen angehen könnte. Die Weltwirtschaft treibt den Klimawandel ganz wesentlich an und die wirtschaftlichen Strategien müssen revidiert werden, wenn das Klima jemals stabilisiert werden soll – und die menschlichen Bedürfnisse erfüllt werden sollen, für die die Weltwirtschaft letztendlich da ist.

Wir können uns einen Fehlschlag der Kopenhagener Klimakonferenz nicht leisten. Das Ergebnis des Treffens wird in den Geschichtsbüchern verzeichnet werden – und in der dauerhaften Zusammensetzung der Atmosphäre, die uns allen gemeinsam ist.

Übersetzung: Jochen Schimmang

Das Worldwatch Institute ist eine 1974 gegründete unabhängige Forschungsorganisation. Ihr Ziel ist es, Einsichten und Ideen zu erzeugen und zu verbreiten, die es Entscheidungsträgern ermöglichen, unsere Gesellschaft ökologisch nachhaltig umzubauen. Worldwatch sucht innovative Lösungen und betont dabei die Zusammenarbeit von Regierungen, privatem Unternehmertum und zivilen Akteuren. Die Worldwatch-Berichte

 «Zur Lage der Welt» , die jetzt im 25. Jahr erscheinen, sind weltweit richtungsweisend in der Diskussion über eine nachhaltige Entwicklung. Sie werden in 36 Sprachen übersetzt. In Deutschland erscheint der Report in Zusammenarbeit von Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch.

Böll.Thema Ausgabe 1/2009 - Green New Deal

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